Sense

Kristof Kryszinksi erwacht nach durchzechter Nacht mit dröhnendem Schädel in seiner Matratzengruft neben einer Leiche. Der Tote ist der Automatenkönig Sascha, den der Privatdetektiv eigentlich gesund und munter ausfindig machen sollte. Die attraktive Gattin des Spielhöllenbetreibers hatte den Schnüffler angeheuert, weil Männe die Einnahmen nicht wie gewohnt brav daheim abgeliefert hatte sondern spurlos verschwand. Nun ist der Mann mausetot und liegt in seinem Blut. Kryzinski hat den lukrativen Auftrag ergo voll vor die Wand gefahren, und seine »Freunde« von der Bulleria halten ihn zu allem Überfluss auch noch für den Mörder.

Vor diesem Hintergrund geht der vollkommen heruntergekommene Detektiv in den düstersten Ecken zwischen Essen, Bochum und Gelsenkirchen auf die Suche nach seinem Alibi und dem Hergang des Geschehens. Kryszinski geht nicht wirklich auf die Suche. Was er unter Suche versteht, ist ein chaotisches Herumstöbern mit dem Ziel, etwas aufzuspüren oder aufzuscheuchen, das ihn seiner Sache näher bringt. Er schwört dabei auf seinen »Instinkt«. Hat er aber erst einmal eine Fährte aufgenommen, dann verstärkt er den Druck durch sofortiges Hinterherhetzen. Bleibt das ohne Erfolg, kehrt er zurück zum Ausgangspunkt und spickt das Terrain mit Lockmitteln, Ködern und Fallen. Seine Technik nennt er »Jagd«.

Das »private eye« bewegt sich bevorzugt im Rotlichtmilieu zwischen seiner Stammkneipe »Endstation«, Abwrackplätzen und Lasterhöhlen. Dabei versucht er, eines der letzten Abenteuer des Alltags zu bestehen und 24 Stunden ohne Alkohol und Koks zu bleiben. Das fällt ihm spürbar schwer, und so sieht er wie etwas aus, das ein Hund im Wald gefunden, runter geschlungen und dann daheim aufs Kanapee gewürgt hat. Bevorzugt schleudert er in betagten japanischen Spritfressern durch die Landschaft und schafft es durch seine Auftritte, eine gehörige Portion Unruhe in die Halbwelt des Pütts zu bringen. Farbenprächtige Schlägereien in Kneipen und Clubs, wilde Verfolgungsjagden über Stock und Stein in gestohlenen Autos sowie wüste Sauf- und Drogenexzesse reihen sich wie Perlen auf eine Schnur und liefern alles, was ein Krimi bieten sollte.

Juretzka serviert eine brillante Kombination von Wortwitz und Sprachgewalt Die furztrockene, mit schwarzem Humor gewürzte Sprache des Kohlenpott-Chandlers macht es zu einem großen Vergnügen, diesen chaotischen Krimi zu lesen. Es handelt sich dabei um den Auftakt einer kantigen Detektiv-Reihe um den Mühlheimer Antihelden Kryszinski, die zwischenzeitlich eine Reihe Preise bunkern konnte und eine wachsende Zahl von Fans findet. Dieser Roman ist großes Kino!

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin

Ich bin schizophren und es geht mir allen gut

Bernemann wird alt. Inzwischen hat er die 30 deutlich überschritten und ist immer noch auf der Suche nach sich selbst. Als Autor möchte er weder schubladisierbar noch schubladesk sein und behauptet, seine Literatur führe eine Art Angriffskrieg. Davon ist in seiner nunmehr vierten Buchveröffentlichung leider wenig zu spüren.

Ubooks hat seinen bisher einzigen Bestseller-Autor dazu verdammt, Neues auf den Markt zu werfen. So greift der geforderte Autor in die Ablage und zaubert einige halbgare Texte hervor, um sein Publikum zu beglücken. Er nennt sie »persönlich«. Alle, die seine Texte kennen, meint Bernemann, hielten ihn für einen Depressiven, manisch Fingernägel kauenden und ewig beunruhigten Alptraumtänzer, einen weit draußen Stehenden, der so far out of space zu sein scheint, dass er »nur an Weltraumbahnhöfen verweltreist«. Tatsächlich will er ein »Kopfkrieg-Youth« sein. »Ich bin ein Modeschmuckgeschäft, in dem es lediglich Assoziationsketten gibt«, brüllt er die Alleen entlang, wenn er zwischen Leipzig, Herne und Trier auf die Suche nach dem Leser geht.

Zum Beweis publiziert er einige kurze Geschichten im Genre Fuckrockblutkotzeliteratur. Das Material füllt kein Buch, Bernemann greift zur Technik, die er schon in seinem Erstling »Ich hab die Unschuld kotzen sehen« anwandte: er schiebt dreißig Seiten Gedichte und Songtexte ein, die er »lyrische Manifeste« nennt. Und tatsächlich: mehr als Assoziationsketten bietet er nicht.

Seiner Zielgruppe, der »schwarzen« Subkultur im Rahmen der Post-Punk- und Dark-Wave-Bewegung, mag das vielleicht genügen. Mit Hilfe eines Lektors, der sein Potential fordert, könnte aus ihm jedoch deutlich mehr werden. Geschichten wie »Der Campingstuhl« jedenfalls zeigen das literarische Vermögen des Autors: ein 18jähriges Mädchen zieht mit einem frisch erworbenen Sitzmöbel auf ein wildes Rockfestival und definiert sich darüber. Auf diesem Klappstuhl sitzt sie als ultimativ Gerockte und betrachtet das Universum, das sich ihr bald in Form von Bier, Schnaps, Haschisch und fröhlichen Freiern vorstellt und findet sich dabei maximal cool und extravagant.

Die eindrucksvolle Beschreibung der Fete rund um das Klappmöbel beweist auch, dass sich im Selbstverständnis junger Leute und ihrer Erlebniswelt in den zurück liegenden 30 Jahren wenig geändert hat und auch die Subkultur immer noch in ihrem Wesen beständig ist. Insofern ist die Lektüre dieses literarischen Kleinods auch für die Altersgruppe 30+ durchaus geeignet. Ob eine Story allerdings genügt, das Buch zu kaufen, mag jeder selbst entscheiden.


Genre: Underground
Illustrated by Ubooks Diedorf

Codex Regius

Der Nordistik-Student Valdemar kommt 1955 an die Universität Kopenhagen um dort die isländischen mittelalterlichen Handschriften zu studieren. Sein Professor an der Uni Kopenhagen gilt als die Koryphäe in seinem Fach. Mit dem erhofften vertiefenden Studium wird es allerdings nichts. Stattdessen wird Valdemar mit seinem Professor in Indiana-Jones-Manier aus Kopenhagen über Berlin und Schwerin nach Island durch allerlei turbulente und durchaus abenteuerliche Szenen getrieben. Was sich so liest, als handele es sich bei diesem Buch um einen vielleicht kurzweiligen aber ansonsten banalen Abenteuerroman mit historischem Hintergrund, täuscht. In Wirklichkeit hat der isländische Schriftsteller Arnaldur Indridason einen überaus spannenden Roman vorgelegt, in dem es um die Bedeutung der historischen Handschriften für die kulturelle Identität der Isländischen Nation und den persönlichen Mut gegenüber Tyrannei und Völkerhass geht.

„In keinem anderen Land des Nordens sind im Mittelalter so viele Pergamentmanuskripte entstanden wie ausgerechnet im kleinsten von ihnen, Island“ schreibt die Übersetzerin der Bücher von Arnaldur Indridason in ihrer informativen Nachbemerkung über isländische Handschriften, die dem neuesten Roman Indridasons folgt.
Der Roman trägt den Titel „Codex Regius“ und tatsächlich spielen nicht eigentlich die beiden Protagonisten, der Student Valdemar und sein Professor die Hauptrolle, sondern diese mittelalterliche Handschrift, die auch unter dem Namen „Lieder-Edda“ bekannt ist.
Die Suche nach ihr eröffnet das Buch, dessen erstes Kapitel im Jahre 1863 beginnt und mit einem Mord endet. Tote hinterlässt auch die weitere Handlung im Buch, die mit einem Prolog im Jahre 1971 endet: Der Heimkehr des frisch gebackenen Literatur-Nobelpreisträgers Haldor Laxness mit dem Schiff aus Kopenhagen nach Island. Der Hauptteil der Handlung aber spielt im Jahre 1955 und erzählt nicht nur von Valdemar, seinen Versuchen ein Experte für isländische Handschriften mithilfe eines Professors zu werden, der allerdings eher dem Alkohol zugeneigt zu sein scheint, als der Wissenschaft. Lesend begegnen wir auch einer Gruppe von Nazis, die den Codex Regius für ihre rassistischen Wahnvorstellungen instrumentalisieren wollen und im Buch nur „die Wagneriten“ genannt werden: Eine Anspielung auf den „Ring der Nibelungen“ von Richard Wagner und der Instrumentalisierung dieser Musik durch die Nazis.
Arnaldur Indridason gelingt es in „Codex Regius“, Fragen um die Bedeutung von Literatur für das Individuum, die kulturelle Identität einer Nation und nach persönlichem Mut gegenüber Brutalität und Tyrannei mit einer spannenden Handlung zu verbinden, die die Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite trägt. Viel mehr kann man kaum verlangen.


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Bastei Lübbe Bergisch Gladbach

Kleiner Genialer Weinführer 2009

Weinführer, auch die fachlich sehr guten Werke, haben zumeist ein Manko: Die Autoren frönen einer Sprache, die es allen uneingeweihten Weintrinkern schwer macht, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen und zu verstehen, was die Autoren eigentlich mitteilen wollen. Man kann Weine aber auch so beschreiben und bewerten, dass man nicht nur verstanden wird, sondern dass die Lektüre sogar Spaß macht. Einer der ganz wenigen Weinautoren, denen dies gelingt, ist Stuart Pigott.
Mit seinem nunmehr im fünften Jahr erscheinenden „Kleiner Genialer Weinführer“ ebnet Pigott den Weg zu interessanten und guten Weinen auf einem längst unüberschaubar gewordenen Markt.
Der „Kleine Geniale Weinführer“ ist anders aufgebaut, als üblicherweise Weinführer gegliedert sind. Vergeblich wird man im Inhaltsverzeichnis eine Unterteilung der besprochenen Weine nach Anbaugebieten und Ländern suchen. Pigott geht bewusst und konsequent subjektiv vor. Zunächst werden die Leserinnen und Leser über wichtige Grundregeln des Umgangs mit Wein á la Stuart Pigott aufgeklärt. Wer allerdings glaubt, damit endlich einen Wein-Kanon gefunden zu haben, täuscht sich. Pigotts Regelwerk negiert jegliche Schemata im Umgang mit Wein: „Gesetz 1: Der Wein ist genauso gut oder schlecht, wie er für Sie jetzt riecht und schmeckt (…). Gesetz 2: Beim Wein gibt es keine Relation zwischen Preis und Qualität. (…) Gesetz 3: Wein ist nicht annähernd so kompliziert oder empfindlich, wie allgemein angenommen wird. (…) Gesetz 4: Es gibt keine falschen Worte, um Wein zu beschreiben. (…) Gesetz 5: Es gibt nur einen Fehler, den man beim Wein machen kann – den anderen den Spaß zu verderben. (…)“

Hat man sich mit diesen „Gesetzen“ angefreundet, erfährt man noch, welches die seiner Meinung nach zehn „größten, dümmsten und schlimmsten Wein-Irrtümer“ sind und wie man sie überwinden kann. Man lernt die Lieblings-Rebsorten für Rotweine und Weißweine des renommierten Journalisten kennen und erfährt manches darüber, welche Weine und Weingüter seine besondere Aufmerksamkeit erregen konnten.
Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich mit den Beschreibungen und Bewertungen der einzelnen Weine. Diese werden in folgenden Kapiteln beschrieben: Trockene Rotweine; Süße Rotweine (Port & Co); Trockene Roséweine; Trockene Weißweine; Süße Weißweine; Weiße Schaumweine.
Pigotts Texte sind alles andere als technokratisch oder wolkig. Pigott hat einen literarischen Stil entwickelt, der seine subjektiven Bewertungen für andere Weinfreundinnen und Weinfreunde nachvollziehbar macht – und die Neugierde wecken. Als Beispiel sei die Beschreibung des süßen Weißweines der beiden Pfälzer Weingüter Hensel und Schneider, „Übermut“ (Rebsorten Muskat – Ottonel) zitiert (Seite 133):
„Wer einen deutschen Süßwein im üblichen Stil erwartet, wird ins Wein-All geschleudert! Wer Quittengelee, bittere Orangenmarmelade oder weißen Port mag, wird diese radikale Innovation mögen. Vorsicht beim Andocken!“

Ein Orts- und Produzentenregister sowie eine Liste von empfehlenswerten Weinhändlern rundet dieses kurzweilige und nützliche Buch ab.


Genre: Lexika und Nachschlagewerke
Illustrated by Scherz Frankfurt am Main

Hä??

Eine aufgebitchte Atze mit Achselkatze, Arschkordel und Arschvignette säuft Dackelwichse am Glutamat-Palast, während ihr Bonsaikeimling vor einem Komposthaufen herum bounct, statt zum Brettergymnasium zu gehen. Da überreicht ihr ein bratziger Hunger-Harry im Asselanzug mit Butterkopf, der frisch aus der Fantafarm kommt, einen Heuchlerbesen …

Keine Peilung, Alter?

Wieder mal nix gerafft?

Dann wird es Zeit für die Anschaffung eines Lexikons der Jugendsprache, das der Verlag Langenscheidt soeben heraus gebracht hat.

500 Wörter und Sprüche aus der deutschen Jugendsprache wurden zusammen getragen und gleich noch ins britische und amerikanische Englisch, ins Italienische, Spanische und Französische übersetzt. Nachdem gerade die »Gammelfleischparty« als Vergnügung der Über-30jährigen zum Jugendwort des Jahres 2008 ernannt wurde, kommt dieses kleine Büchlein gerade recht.

Wer es braucht? Nun, vielleicht derjenige, der das obige Textbeispiel übersetzen möchte.

Und das bedeuten die mit Hilfe des Lexikons verfassten Eingangszeilen auf Hochdeutsch:

Eine aufgetakelte Frau mit starker Achselbehaarung, Stringtanga und Steisstattoo trinkt Eierlikör am Schnellimbiss, während ihr Kind vor einem Bioladen herum springt, statt die Sonderschule zu besuchen. Da überreicht ihr ein dümmlich wirkender magerer Mann im Trainingsanzug mit angeklatschten Haaren, der gerade aus der Entziehungsklinik kommt, einen Blumenstrauß …


Genre: Wörterbücher
Illustrated by Langenscheidt Berlin

Das Teubner Handbuch Saucen

Wie schön, wenn man ein wirklich gutes Kochbuch in den Händen hält. Im „Handbuch Saucen“ aus dem Teubner Verlag stimmen nicht nur die Fotographien und die Texte, sie harmonieren auch noch wunderbar miteinander. Die Texte sind verständlich und hilfreich und die Fotos unterstützen deren Aussagen. Eine Wohltat.

Das Buch erklärt die Grundlagen der Saucenherstellung. Es erzählt von Kräutern, Gewürzen und den anderen Zutaten, die für eine gute Sauce wichtig sind. Wie Fonds, Jus und Glace gemacht werden, bleibt ebenso wenig unbeantwortet wie die Frage nach den Rezepten für wichtige Grundsaucen. Auf den 448 Seiten wird die Welt der Saucen in Verbindung zum eigentlichen Gericht dargestellt: Welche Saucen passen zu Geflügel? Was schmeckt gut zu Fleisch und Wild? Was verlangt guter Fisch, was Salat, Gemüse, Teigwaren und womit „rückt“ man Süßwaren zu Leibe?
Die Antworten sind so formuliert, dass man das Buch nicht sehr lange in Händen hält. Aber nicht etwa, weil es etwas zu kritisieren gäbe, sondern weil der Inhalt im Gegenteil derart appetitlich ist, dass man sich zwangläufig und möglichst schnell in die eigene Küche begeben will, um etwas aus diesem wirklich hilfreichen Buch zuzubereiten. Wie wäre es beispielsweise mit einer Holundersauce zur gefüllten Wildhasenkeule? Oder kennen Sie Safran-Aioli? Schmeckt sehr gut zu Kartoffel-Lamm-Spießen.

Um an den Anfang dieser Buchbesprechung zurückzukehren: Ein gutes Kochbuch in den Händen zu halten, ist leider eher selten. Bei der Unmenge an Kochbüchern, die in den Buchhandlungen einen nicht unwesentlichen Teil der Regale bevölkern, klingt dies merkwürdig.
Was also macht ein gutes Kochbuch aus? Bevor wir einen Glaubenskrieg auslösen, bekennen wir: Auf diese Frage gibt es mehr als eine Antwort. Fangen wir also neu an: Was kann jedes gute Kochbuch entbehren? Vorworte der blumigen Art, die seitenlang nichts über die Materie, dafür umso mehr über die Autorin oder den Autor des Vorwortes verraten. Ebenso sinnlos sind Bilderstrecken, die mit den sie umgebenden Rezepten nichts gemein haben und allenfalls dazu dienen, der geneigten Betrachterin und dem staunenden Betrachter (Leserin bzw. Leser kann man in diesem Zusammenhang nicht schreiben, da es bei gemeinten Werken praktisch nichts zu lesen gibt) vor allem eines zu verdeutlichen: „Strengt Euch gar nicht erst an, so schön, wie unser Food-Fotograph bekommt ihr das sowieso niemals hin!“
Leider lässt sich solcherlei Kritik mittlerweile auf die Mehrzahl der auf dem Büchermarkt befindlichen Werke anwenden. Dies alles gilt ausdrücklich nicht für das hier vorgestellte Buch. Im „Handbuch Sausen“ sind die Fotographien tatsächlich in der Lage Zusammenhänge deutlich zu machen und notwendige Arbeitsschritte in der Küche zu illustrieren. Die Texte erklären Zusammenhänge und sind hilfreich.
In der Unterzeile zum Titel verspricht der Verlag: „Von Aioli bis Zitronensauce“. Natürlich stimmt das erst einmal – da das Alphabet ganz durchdekliniert wird. Der enzyklopädische Anspruch, den ein solcher Titel evoziert, ist vielleicht noch das kritikwürdigste an diesem Buch. Wer glaubt schon ernsthaft, er könne die kulinarische Welt – und sei es, die der Saucen – in einem Buch abbilden? Ein gutes Stück davon haben die Leute von Teubner aber doch eingefangen. Und das haben sie wirklich gut gemacht.


Genre: Lexika und Nachschlagewerke
Illustrated by Teubner Hamburg

Der Reiher

Dieser Roman schildert den letzten Tag im Leben von Edgardo Limentani, einem jüdischen Rechtsanwalt und Landbesitzer aus der oberitalienischen Stadt Ferrara. Limentani beschließt an diesem Tag endlich einmal wieder in die Valle, einer südlich des Po-Deltas gelegenen Sumpflandschaft, auf Jagd zu gehen. Limentani fährt in die Sümpfe, legt dabei einen Stopp ein, führt ein Gespräch mit dem Gasthauswirt Bellagamba und unternimmt einen Versuch, sich mit seinem Cousin Ulderico zu verabreden. Auf der Rückfahrt verschenkt Limentani die gesamte Jagdbeute, die obendrein gänzlich von seinem Jagdhelfer erlegt wurde. Er ruht sich im Gasthaus von Bellagamba aus, bevor er in sein Haus zurückkehrt, um sich dort in sein Zimmer zurückzuziehen. Für immer.

So wenig in „Der Reiher“ äußerlich geschieht, so intensiv wird die Lektüre durch das, was sich in Edgardo Limentani und durch das, was mit ihm geschieht. An das Ende dieses 152 Seiten umfassenden Romans angelangt, weiß der Leser, dass Edgardo Limentani beschlossen hat, seinem Leben ein Ende zu setzen. Im Alter von 45 Jahren. So wenig, wie offensichtlich an diesem Tag geschehen ist und den der Autor Giorgio Bassani so eindringlich zu schildern vermag, so schwer wiegt für Limentani diese Gleichförmigkeit und von Banalitäten strotzende Handlung. Neben der Hauptfigur Limentani wird Bassanis Geschichte von wenigen Personen bevölkert. Der Inhaber eines Gasthauses mit Zimmern, namens Bellagamba, der Jagdhelfer, der in den Sümpfen Edgardo Limentani nicht nur führt und hilft, sondern eigentlich allein für die Jagdausbeute sorgt sowie Ulderico, der Cousin des Landbesitzers spielen eine Rolle. Und die Zeit, in der diese Geschichte spielt: Wenige Monate nach dem Ende des italienischen Faschismus und der Kapitulation Nazi-Deutschlands.
Bellagamba ist ein Faschist der ersten Stunde und begegnet Limentani fast unbefangen. Sein Cousin hatte Mussolini ebenso begeistert zugejubelt, wie er sich nun mit dem neuen, demokratischen System, arrangiert. Sein Jagdhelfer zeigt ihm eine Zielstrebigkeit in der Jagd, die ihm vor lauter grüblerischer Selbstbefragung abgeht. Kurz nach dem Ende des Faschismus, nach Krieg und Holocaust kann ein Tag so banal sein, als ob eigentlich nichts geschehen wäre. Giorgio Bassani, einer der Großen der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts, wurde oft als einer der „leisesten Schriftsteller Europas“ bezeichnet. Tatsächlich erzählt Bassani in seinen Romanen und Erzählungen in einer Beiläufigkeit vom Leben der Menschen in seiner Heimatstadt Ferrara, die durchaus etwas atemberaubendes hat. Bassani beschreibt eine über jahrhunderte entstandene, einmalige, scheinbar voll assimilierte Kultur des Judentums in Ferrara. Das Wissen darüber, dass es wenig bedurfte, um das zu Negieren und dass diese Kultur mit dem Holocaust unwiederbringlich untergegangen ist, bewirkt eine Intensität dieser Erzählungen, die literarisch ihresgleichen sucht.
Alfred Andersch formulierte schon 1968: „Die Größe Bassanis kann daran erkannt werden, dass der Leser seiner Bücher sich der Stadt Ferrara nicht mehr als Tourist nähern kann, weder als naiver noch als kenntnisreicher. Ferrara wird ihn in erster Linie als Schauplatz der Erzählungen Bassanis interessieren.“


Genre: Belletristik
Illustrated by Klaus Wagenbach Berlin

Die Aprilhexe

Ihre Schwestern können alles – laufen, sprechen, schreiben, singen, arbeiten, streicheln -, sie kann nichts davon. Desirée ist schwer behindert, ans Bett gefesselt, abgeschoben. Und doch ist sie freier als ihre Stiefschwestern, von denen sie erst spät erfährt. Sie kann das Universum und die Menschen durchschauen. Sie kann sie sogar manipulieren, kann in den Köpfen von Tieren und Menschen spazierengehen und so das Leben erleben. Freilich ist der Preis hoch. Desirée büßt weitere Funktionen ihres gepeinigten Körpers ein. Doch sie erreicht, daß ihre drei ungleichen Schwestern aufmerken und innehalten müssen in ihrem ausgefüllten Alltag. Christina, die einst so verängstigt und brav war und sich nun für ihre Familie und ihre Patienten aufopfert und doch weiter auf ihr eigenes Quäntchen Glück hofft. Margareta, das fröhliche, lesesüchtige Mädchen, das zu einer liebeshungrigen, nach außen starken Frau und wegen eines überwältigenden Sonnenaufgangs in einsamer Natur Physikerin geworden ist. Und Birgitta, die wilde, ungebärdige, weißblonde Schönheit, die den gefährlichsten Jungen der Stadt bezirzt hat und jetzt nur noch eine alte, kranke Alkoholikerin ist. Was ist geschehen? Drei Briefe bringen die Schwestern zusammen und in Aufruhr, rufen das Leben bei Ellen in Erinnerung, die für alle gesorgt hat.
Desirée will es wissen. Wie haben die anderen gelebt? Wer hat ihr Leben weggenommen? Sie befreit sich aus ihrem beengten Leib und taucht ein in des Dasein der anderen. Und: Sie gibt sich der Liebe hin, ihrer einzigen, ein einziges Mal.
Majgull Axelsson hat einen eindringlichen Roman voller Beklemmung und Überschwang geschrieben. Mit ihrer Kunst des Erzählens läßt sie magische Geschichten entstehen, die zwischen gestern und heute, Dichtung und Wahrheit schwingen. Sie zeichnet ein präzises und kritisches Bild ihrer schwedischen Heimat und geht doch weit über ein modernes Sittengemälde hinaus. Sie hebt die Grenzen zwischen Individuum und Gesellschaft auf und eröffnet ihren Lesern neue Räume jenseits der Realität.


Genre: Romane
Illustrated by C. Bertelsmann München

Häuptling Eigener Herd Nr. 36

Lärm & Gestank. Das ist zwar nicht Programm, wohl aber Titel und Thema der neuen Ausgabe der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift „Häuptling Eigener Herd“. Diese Sammlung von Texten und Zeichnungen zu allen wesentlichen kulturell-kulinarischen Themen, die die Menschheit bewegen, wird seit nunmehr 36 Quartalen von Vincent Klink und Wiglaf Droste herausgegeben. Und die Kombination der beiden Herausgeber ist dann doch Programm für diese mehr als nur vergnügliche Zeitschrift. Professionell in Küche und an der Tastatur oder dem Schreibstift sind sie, der Musik- und Textbegabte Profikoch aus Stuttgart und der genusssüchtige Wortkünstler aus Ostwestfalen.

In der neuen Ausgabe beschäftigen sich wieder eine ganze Reihe bekannter Autoren, wie beispielsweise Fritz Eckenga und noch nicht so bekannte, gleichwohl begabte Autorinnen und Autoren mit der Themenvorgabe der beiden Herausgeber. „Lärm & Gestank“ sind natürlich etwas, was in allen Küchen so oder so schon mal seinen Platz “findet”. Dass aus der literarischen Beschäftigung damit im “Häuptling” keine wissenschaftliche Abhandlung wird, dürfte klar sein.

In seinem Beitrag mit dem Titel „Milch, Käse und Köttel. Ansichtskarte aus der Tessiner Bergwelt“ beweist Eckenga einmal mehr Meisterschaft, wenn er fast romantisch anmutende Naturbeschreibungen für den Einstieg wählt, um dann aber – gar nicht im Widerspruch dazu – das beschreibt, was auf einer Alm geschehen kann, aber auf ähnlichen Ansichtskarten fehlt: „(…)Eine Ziege geht auch nicht weg, wenn ich versuche, sie zu verscheuchen. Hebt entweder kurz den Kopf, aus dem mich ein Paar gelber Augen mit mitleidloser Verachtung ankuckt, oder dreht mir gleich das Hinterteil zu, um mir einen weiteren Haufen stinkendes Elend vor die Fuße zu legen. Gleich werde ich mit brettharter Lässigkeit den kurzen Weg zur Alphütte gehen. Ich werde nicht versuchen, den herumliegenden Hindernissen auszuweichen. Das geht gar nicht. Ganz gleich, wo man hergeht, die Ziegen waren schon alle da. (…)

Zu guter Letzt wird das vorliegende Heft mit einem Special „NAPOLI“ abgerundet und abgeschlossen. Ganz unpassend zum Heftthema jedenfalls berichtet Vincent Klink aus der Metropole Kampaniens. Von Ruhe und Duft Neapels, natürlich von Pizza aber auch ganz anderen kulinarischen Freuden und Besonderheiten.

Wer den „Häuptling Eigener Herd“ noch nicht kennt, sollte dies ändern – die Lektüre bereitet einfach zu viel Freude, um auf sie zu verzichten.

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Genre: Humor und Satire
Illustrated by Unbekannter Verlag

Die Loge der Unschuldigen

Der Leiter der Mordkommission von Florenz, Kommissar Ferrare, ermittelt im zweiten Band der mittlerweile auf drei Bücher angewachsenen Krimireihe von Michele Giuttari parallel an zwei Fällen. Der erste Fall scheint zunächst nicht auf ein Verbrechen hinzudeuten. Ein sechzehn Jahre altes Mädchen wird von der Polizei am Straßenrand außerhalb Florenz aufgefunden. Sie liegt im Koma und stirbt wenige Stunden später in der Klinik der Arnometropole, wohin sie die Polizisten bringen lassen. Kommissar Ferrara allerdings traut der Diagnose der Krankenhausärzte nicht, die von einem Selbstmord oder einem Tod durch eine Überdosis Heroin ausgehen. Er lässt weiter ermitteln und sticht damit in ein Wespennest. Als dann im Verlaufe der Geschichte in einem zweiten Fall sein bester Freund als mutmaßlicher Mörder auf die Fahndungsliste der Carabinieri gesetzt wird, gerät die Welt des Commissario Ferrara fast aus den Fugen.

Die Ermittlungen bringen Ferrara erst in Konflikt mit dem Chefarzt, der den Totenschein für die junge Herointote ausgestellt hat und in Folge mit einem nicht unbedeutenden Teil des Establishment von Polizei und Justiz. Ein Zusammenhang mit Freimaurerlogen deutet sich im Verlaufe der Ermittlungen an. Diese stehen spätestens seit dem italienischen Korruptionsskandal, der das gesamte politische System Italiens aus den Angeln gehoben hat, in keinem besonders rosigen Licht: Die Loge P2 stand im Mittelpunkt von Ermittlungen, die bis hin zum Verdacht von Vorbereitungen für einen Staatsstreich reichten.
Ferrara aber bohrt. weiter Als er im zweiten Fall, in dem sein bester Freund als Mörder gesucht wird, dessen Unschuld beweisen will und auf Mafiaverbindungen stößt, wird er vom Dienst suspendiert. Alles scheint darauf hinzudeuten, dass diese Geschichte in einer beruflichen und persönlichen Katastrophe endet.


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Bastei Lübbe Bergisch Gladbach

Wir schnallen den Gürtel weiter

Wiglaf Droste & Vincent Klink: Das ist mal ein Gespann. Der eine führt eine der schärfsten und bösesten Federn im deutschen Literaturgestrüpp. Der andere führt ein formidables Restaurant und thront über den Hügeln Stuttgarts. Beide zusammen geben seit 1999 eine Zeitschrift mit dem eingängigen Titel „Häuptling Eigener Herd“ heraus. Nun ist im Reclam Verlag „Eine Essenz aus Häuptling Eigener Herd“ unter dem Titel erschienen, der zugleich das Motto jener Zeitschrift ist: „Wir schnallen den Gürtel weiter“. Weiterlesen


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Reclam Stuttgart/Dietzenbach

Die schwarze Seele des Sommers

Commissario Salvo Montalbano erlebt einen Sommer, der nicht nur ihn zermürbt. Seine Verlobte kommt, samt bester Freundin, deren Mann und Kind, nach Sizilien. Montalbano muss ein Ferienhaus besorgen, womit allerdings nach kurzer Zeit überraschend der Ärger beginnt. Eine Invasion von Küchenschaben löst ein Chaos aus, das sich bis zum Auffinden einer Leiche steigert. Auf den ersten 100 Seiten ist alles dabei, was normale Menschen in den Wahnsinn treibt und Krimileser in gute Laune versetzt.

Dabei fängt die Geschichte so harmlos an. Es ist August, Salvo Montalbano liegt in seinem Häuschen am Strand von Marinella ,als ihn seine Verlobteanruft, die bekanntlich in Genua lebt. Da in der Beziehung der beiden so entfernt Lebenden nichts einfach ist, wird auch aus diesem Wiedersehen nichts Normales. Livia bringt ihre beste Freundin mit, die ihrerseits Mann und Kind im Gepäck hat. Die Folge: Montalbano muss sich um ein Haus am Meer kümmern. Und das bei Gluthitze. Leserinnen und Leser, denen der sizilianische Kommissar kein Fremder mehr ist, können sich dessen Gemütsverfassung ob einer solchen Aufgabe ausmalen. Natürlich löst die Hauptfigur der Krimireihe von Andrea Camilleri auch diese Aufgabe, wenn schon nicht im Handumdrehen, dafür aber bravourös – denkt Montalbano jedenfalls. Dumm nur, dass sich im Keller des Ferienhauses eine Leiche befindet – und das ist nicht im übertragenen Sinne gemeint.

Das Ferienhaus liegt oberhalb eines Strandes und hat ein Untergeschoss, das illegal errichtet wurde. Was nichts Besonderes ist, stellt doch das Bauen ohne Genehmigung in Sizilien offensichtlich eine lässliche Sünde dar, die praktisch nicht verfolgt wird. Wenn allerdings seit sechs Jahren in diesem Untergeschoss unentdeckt eine Leiche liegt, dann stellen sich auch sizilianische Behörden dieser Aufgabe. Montalbano ermittelt und lernt u.a. einen Bauunternehmer kennen, der den Prototypen des korrupten Fieslings abgibt und prompt unter Verdacht gerät.
Noch mehr als der für ihn alltägliche Umgang mit Korruption, macht Montalbano allerdings sein Alter zu schaffen. Nicht dass der Kriminalpolizist gebrechlich würde. Körperlich ist der Mann fit, schwimmt jeden Tag und scheint auch durchaus ansehnlich geblieben zu sein. Aber gerade seine Anziehungskraft auf jüngere Frauen ist es, die ihm zu schaffen macht. Während seine Verlobte, gemeinsam mit bester Freundin nebst Familie, nach dem Fund der Leiche empört die Insel verlässt und Montalbano konsterniert zurücklässt, begegnet ihm die Zwillingsschwester der Toten. Und die ist „molto bella“….

Wie immer in dieser Krimireihe ist der Plot hinreichend spannend, man kann tatsächlich von einer Kriminalgeschichte reden. Das eigentlich Interessante sind aber die Protagonisten der Geschichten, ihre Landsleute und die Umgebung. Mit einem Wort: Sizilien. Andrea Camilleri, selbst Sizilianer, versteht es meisterhaft eine Ahnung von der Widersprüchlichkeit des Lebens auf der größten Mittelmeerinsel zu vermitteln. Und da eine weitere Zutat der Geschichten von Camilleri ein manchmal überbordender und zugleich grimmiger Humor ist, trainiert die Lektüre nicht nur die Gehirnzellen sondern auch gleich das Zwerchfell.


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Bastei Lübbe Bergisch Gladbach

Venedig unter vier Augen

Noch ein Buch über Venedig? Nicht, dass sich der amerikanische Romancier Louis Begley und seine Frau, die Biographin Anka Muhlstein nicht auch diese Frage gestellt hätten. Glücklicherweise hat sie das aber nicht davon abgehalten, „Venedig unter vier Augen“ zu schreiben. Begley eröffnet den Band mit einer Erzählung, nach deren Lektüre die Koffer gedanklich schon gepackt sind. Anka Muhlstein schließt sich mit der Beschreibung ihrer Lieblingsorte und Lieblingsrestaurants in der Lagunenstadt an. Danach möchte man den Rest des Buches nur noch auf der Reise in die Serenissima lesen. Dieses Buch ist nichts mehr und nichts weniger als eine überaus gelungene Liebeserklärung an Venedig.

Das im Mare-Buchverlag schon 2003 erschienene Buch, nun auch als Taschenbuch bei Fischer zu haben, besteht aus vier Teilen. Den Reigen eröffnet Louis Begley mit einer Erzählung, die von der erotischen Initiationsgeschichte eines amerikanischen Studenten und natürlich in Venedig handelt. Lilly, einer Mitstudentin aus vermögendem Hause nach Venedig nachreisend, hat er nach seinem Aufenthalt in der Lagunenstadt ebensoviel über Lilly erfahren, wie von der Topographie, von Kunst und Kultur in Venedig. Die Liebe zu dieser außergewöhnlichen Stadt überdauert die Begierde nach Lilly, die ihm zu Beginn der Erzählung erklärte, wie man am besten nach Venedig komme: „Der Königsweg nach Venedig, sagte Lilly, ist in einer Gondel. Alles andere wäre Frevel.“ Diesem Ratschlag, das schreibt uns Begley mit einem Zitat hinter die Ohren, wäre Thomas Mann nicht gefolgt. Dieser nämlich meinte, dass auf dem Bahnhof in Venedig anzukommen, einen Palast durch die Hintertür betreten hieße. Welche Wege die Begleys in Venedig betraten, davon handelt der zweite Teil des Buches.

Anka Muhlsteins beschreibt in „Die Schlüssel zu Venedig die Lieblingsorte und die Restaurants in Venedig, „die Begegnungen mit ihren Padroni und dem Bedienungspersonal“, die den Begleys die Stadt und ihre Einwohner auf besondere Weise näher gebracht habe. Kulinarisch darf man dabei nicht allzu viel erwarten. Im Gegenteil wird eingangs über eines der Lokale lobend berichtet: „Louis erklärte, er habe noch nie einen so guten Hamburger gegessen“. Die Orte und Lokale, von denen Anka Muhlstein erzählt, werden durch die Menschen lebendig, die sie bevölkern und die in ihnen arbeiten. So wird Muhlsteins Beschreibung vor allem eine Hommage an das Venedig der Venezianer und nicht das der Touristen.

Diesen beiden Texten folgt ein Fotoalbum mit Fotografien der Begleys, ihrer Kinder und Enkel in Venedig. Eine Abhandlung von Luois Begley über Venedig und die Literatur beschließt das Buch. Begley schreibt über den Ort und seine Schriftsteller und über die Frage, wie sich die Lektüre eines Buches verändert, hat man Venedig erst einmal kennengelernt.

Und um die Frage noch einmal aufzugreifen, die wir am Anfang dieses Literaturtipps gestellt haben, sei hier Louis Begley zitiert, der widerrum einen berühmten Kollegen zitiert:
„Venedig: es ist eine Freude, das Wort zu schreiben, aber ich weiß nicht, ob es nicht eine gewisse Anmaßung wäre, wollte man so tun, als sei dem noch etwas hinzuzufügen. Venedig ist tausendfach gemalt und beschrieben worden und von allen Städten der Welt am leichtesten zu besichtigen, ohne dass man eigens dorthin reist…“ Dieses Zitat stammt von Henry James, der zu seinem Ruhm und unserem Glück – gegen den eigenen Rat wieder und wieder über „la Serenissima“ schrieb.


Genre: Belletristik
Illustrated by marebuch-verlag Hamburg

Führer in die Innere Mongolei

Der Ich-Erzähler erbt von einem Freund, der sich aus dem Leben verabschiedet, einen Job: Er soll eine Reportage über die Volksrepublik Mongolei verfassen. Dieser Auftrag wurde von einer Zeitschrift vergeben, deren erste Nummer allerdings erst in ein paar Jahren erscheinen soll, sofern sich Geldgeber finden, die das Erscheinen des Blattes finanzieren. Da eine Arbeit aber nun einmal erledigt werden muss, so sinnlos sie auch scheint, reist der Autor aus Berufsethos nach Ulan Bator. Dort strandet er im Hotel »Dschingis Khan«, bleibt an der Bar kleben und pendelt zwischen Hotel und dem Bistro »Stern des Ostens«.

Absurde Typen kreuzen seinen Weg: ein holländischer Bischof, der trotz vieler Glaubenszweifel im nahe gelegenen Bordell missioniert; ein amerikanischer Korrespondent, der für ein längst eingestelltes Bostoner Abendblatt schreibt, ein Lama, der als Spitzel zum KGB übergewechselt ist, und ein angeblicher Doktor, der zu Seancen auf sein Hotelzimmer einlädt. Und während der Chefmeteorologe des Landes wegen einer falschen Voraussage hingerichtet werden soll, sitzt die britische Schauspielerin Charlotte Rampling in der Lobby, blättert in der »Times« und trinkt Cappuccino. Schließlich stößt noch ein gewisser Herr Mercier hinzu, jener alte Wüstling, der Sylvia Kristel in den Softpornoreihe »Emmanuelle« gegen dickes Honorar in die orientalischen Finessen der Fleischeslust einführte. Der Kerl war in Wirklichkeit schon über fünf Jahre tot, doch das kümmert wenig in der Mongolei, wo man selbst Kadavern mit ausgesuchter Höflichkeit begegnet.

Der Autor des geplanten Reiseführers würdigt ausführlich die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, die ihm bereits in den ersten Augenblicken seiner Mongolei-Visite fasziniert. Dabei erkennt er, dass das Fiktive grundsätzlich dadurch begünstigt ist, dass es überzeugender und in jedem Sinne der Wahrheit näher ist. So wird sein Bericht zu einer Parodie über die Auswüchse des Sozialismus bei den Erben Dschingis Khans, die sich so oder ähnlich auch in Basaras Heimat Jugoslawien abspielten. Dabei nähert er sich unvermeidlich auch der eigenen Biographie und stößt inmitten der dicken Schlammablagerungen seiner Seele auf ein paar Goldkörner.

Aber ist der Autor überhaupt in der Mongolei oder hält er sich lediglich in seinem Wohnzimmer auf und träumt ein wenig, während er sich betrinkt? Denn im Alkohol erkennt er das günstigste Mittel, um auszuschwärmen und die dunkelsten Winkel übel riechender Seelen zu erforschen, Schmutz ans Tageslicht zu fördern und die Vernunft vollends zu zerstören. Oder aber, um die Zeit anzuhalten. Denn Basara ist vom Phänomen der Zeit fasziniert. Immer wieder wirft er einen Blick auf die nächste Uhr, um zu sehen, ob die Zeit stehen bleibt, ob sie langsamer wird und allmählich ihre wahre Geschwindigkeit erreicht, ob sie ein kontinuierlicher Fluss oder ein wilder Sturzbach ist, und ob man vielleicht sogar durch sie hindurch gehen kann.

Der bereits 1992 entstandene Text des serbischen Autors ist absurd, verrückt, anarchistisch und genial zugleich. Idee und Anlage des Romans entspricht den Prinzipien des Gonzo-Journalismus. Basara ergeht sich in Aus- und Abschweifungen aller Art und taucht zugleich in philosophische Tiefen: denn der inneren Mongolei in uns entkommen wir nur schwer, es sei denn in Kunst und Literatur.


Genre: Romane
Illustrated by Unbekannter Verlag

Todesrosen

Dieser Island-Krimi von Arnaldur Indridason beginnt einigermaßen makaber. Eine Frau schleppt einen Arbeitskollegen nach einer Party ab. Das wäre ja noch nichts Besonderes. Der Ort, zu dem sie ihn führt ist allerdings durchaus ungewöhnlich, zumindest als Schauplatz amouröser Abenteuer: Der Alte Friedhof in der Innenstadt der Hauptstadt Islands, Reykjavik. Womit das Pärchen nicht gerechnet hatte: In unmittelbarer Nähe entdeckt es eine Leiche. Nun mangelt es naturgemäß auf einem Friedhof nicht an Toten. Allerdings liegen diese normalerweise nicht auf, sondern in ihren Gräbern.

Womit es Kommissar Erlendur und seine Kollegen von der Mordkommission Reykjavik zu tun bekommen ist eine tote junge Frau, die nackt inmitten der Blumen auf dem Grab des isländischen Freiheitskämpfers und Nationalhelden Jón Sigurdsson liegt. Und was den isländischen Kriminalpolizisten lange Zeit zu schaffen macht, ist die Tatsache, dass es ihnen nicht gelingen will, die Identität der Toten herauszufinden. So tappen Erlendur, seine Kollegen Sigurdur Óli und Elinborg im Dunkeln, rätseln über das mögliche Motiv für diesen Mord und den exponierten Ort, an dem die Tote gefunden wurde. Die Ermittlungen führen sie in den Westen Islands, zu den Westfjorden und in mehr als nur unappetitliche Zusammenhänge zwischen Immobilienspekulationen, Fischfangquoten und Prostitution.
In der edition lübbe sind mittlerweile neun Bücher des isländischen Autors Arnaldur Indridason erschienen. „Todesrosen“ erscheint als neunter Band und ist doch in Wirklichkeit der zweite Roman aus der Reihe rund um den Leiter der Mordkommission von Reykjavik, Erlendur und seine Kollegen. Wer die anderen, hochspannenden, Kriminalromane schon kennt, wird hier noch einmal in der Chronologie zurückgeworfen und wird einige Selbstverständlichkeiten, die man aus den bisher gelesenen Roman schon kennt, in ihrer Entstehung nachvollziehen können.
Dieser nun in deutscher Übersetzung vorliegende Fall hat gleichwohl schon alle Ingredienzien, die auch die später geschriebenen Krimis von Indridason ausmachen: So klein Island sein mag und so gering die Einwohnerzahl dieser Insel im Nordatlantik ist, so brutal fallen die Morde in diesen Krimis aus. Die Aufklärung der Verbrechen führt lesend in die Tiefen der isländischen Gesellschaft und scheut nicht vor ausführlichen Ausflügen in die Geschichte der Insel und seiner Bewohner zurück. Das Personal, dass die Romane von Indridason „bevölkert“ ist nicht minder realistisch und widersprüchlich gezeichnet. Eine besondere Spezialität des Autors ist aber, die Spannung bis zu den letzten Seiten seiner Geschichten aufrechtzuerhalten. Wer im Verlaufe der Lektüre sich der Aufklärung sicher glaubt, wird regelmäßig auf den letzten Seiten der Romane eines besseren belehrt. Prädikat: Hochspannend.


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Bastei Lübbe Bergisch Gladbach